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AutorenbildRagna Munyer

Die Bambi-Reaktion - Gefallen und beschwichtigen


Mittlerweile haben schon viele Menschen von den gängigen Reaktionen des Nervensystems auf bedrohliche Situationen gehört: Kampf, Flucht und Einfrieren. Doch bist du vielleicht ein*e Kandidat*in, der*die schlecht Nein sagen kann, sich ständig verantwortlich fühlt und sehr feinfühlige Antennen für die Bedürfnisse Anderer hat und dabei die eigenen komplett vergisst?

Dann hast du vielleicht mit der noch wenig erforschten Bambi-Reaktion (Englisch: Fawn-Response) zu tun. Pete Walker hat den Begriff erstmals in seinem Buch "Complex PTSD: From Surviving to Thriving" beschrieben: "Der Bambi-Typus sucht durch Verschmelzen mit den Wünschen, Bedürfnissen und Forderungen Anderer nach Sicherheit." Diese Trennung von sich selbst lässt Menschen zu "Ja-Sagern" und Co-Abhängigen werden, die sich nicht selten in toxischen Beziehungen wiederfinden, in denen sie ausgenutzt oder sogar misshandelt werden.



Konfliktvermeidung als Überlebensstrategie


Walker schreibt: "Als Kleinkind lernt der*die Co-Abhängige schnell, dass der Protest gegen die Misshandlung sogar zu noch beängstigerenden elterlichen Konsequenzen führt. Also reagiert sie, indem sie ihre Kampf-Reaktion ablegt, das "Nein" aus ihrem Wortschatz streicht und nie die Sprachfähigkeiten gesunder Bestimmtheit entwickelt." (p130-131)


Wir alle haben die Bambi-Reaktion als Strategie in unserem Nervensystem verfügbar, wie auch die Kampf-, Flucht- und Einfrier-Reaktion. Wachsen wir in einem gesunden Elternhaus auf, haben wir alle 4 Reaktionen in Stresssituationen verfügbar. Wir nutzen den Kampf für gesunde Grenzen, die Flucht, um ungesunde Situationen zu verlassen, geben uns mit dem Einfrieren hin, wenn wir einsehen, dass es keine Alternativen gibt und verlassen höflich und ohne Angriffsfläche eine intensive Situation, indem wir das Bambi herausholen.

Erlebt ein Kind jedoch wiederholt traumatische Situationen, Gewalt und die Ablehnung seiner Grenzen, kann es zu einem übermäßigen Gebrauch einer der Reaktionen kommen. Co-Abhängigkeit entsteht nach einer Studie von Wells, Glickauf-Hughes und Jones in 1999 besonders in Scham-basierten Familienstrukturen und wenn Kinder elterliche Verantwortung übernehmen (parentification). Der Bambi-Typus reagiert nach Walker wie folgt: "Sie lässt schlauerweise alle Bedürfnisse los, die ihren Eltern Umstände machen könnten. Sie stoppt Vorlieben und Meinungen, die ihre Eltern verärgern könnten." (S.132) Konflikte werden zwanghaft vermieden, weil diese als zutiefst bedrohlich, oder zu belastend für einen überforderten Elternteil wahrgenommen werden.


Bist du ein Bambi-Typus?


"Der implizite Kodex des Bambi-Typus ist, dass es sicherer ist:

1 - zuzuhören, statt zu reden

2 - zuzustimmen, statt zu widersprechen

3 - sich zu kümmern, statt um Hilfe zu bitten

4 - anderen etwas zu entlocken, statt sich auszudrücken

5 - Entscheidungen anderen zu überlassen, statt Vorlieben auszudrücken" (Walker, From Surviving to Thriving, p.133)


Dies kann sich vielgestalt ausdrücken:


  • es fällt dir nicht leicht, Wut zu fühlen, oder sie wird erst nach einer stressigen Situation spürbar

  • du sprichst schwierige Themen nicht an

  • du übernimmst oft die Schichten/Aufträge, die keiner will

  • du lächelst, auch wenn du dich nicht gut fühlst

  • du überlässt Partnern/Freunden/Arbeitskollegen die Entscheidungen, welcher Film gesehen, welches Essen bestellt, welche Möbel gekauft werden.

  • du kümmerst dich stets um die Bedürfnisse anderer und hegst innerlich Groll darüber, dass niemand es dir gleich tut

  • in Beziehungen gleichst du dich mehr dem Leben des Partners an und fügst dich in dessen Lebensablauf/Hobbies/Freundeskreis ein

  • du hast Freundschaften, in denen du häufig Zuhörer*in und Helfer*in bist, vertraust dich aber nicht verletzlich an

  • du fühlst dich oft ausgenutzt, nicht versorgt und links liegen gelassen

  • du hast das Gefühl, selbst unhöflichen Menschen, nicht auf den Schlips treten zu wollen

Findest du dich darin wieder, ist das nicht ungewöhnlich. Jeder Mensch kennt Situationen, wie o.g. Ist es jedoch so, dass du einen tiefen Leidensdruck erlebst, weil du nicht weißt, wie du deine Bedürfnisse erfüllen kannst und du dich ausgelaugt und unverbunden fühlst, könnte Entwicklungstrauma der Grund dafür sein. Dann macht es Sinn, sich Unterstützung zu suchen, auch wenn dies für den Bambi-Typus erst einmal beängstigend sein kann.


Selbsterkenntnis als erster Schritt zur Veränderung


Wie immer gilt auch hier: was nicht auf der Liste steht, kann auch nicht erledigt werden. Sein harmonisierendes und friedliebendes Wesen als etwas anzuerkennen, das Unterstützung braucht, liegt nicht immer auf der Hand. Als Bambi bekommt man auch eher viel positives Feedback im Außen. Oft sind Kinder mit diesem Stressverhalten gut in der Schule und wirken sozial angebunden. Als Erwachsene findet man sie nicht selten in sozialen, helfenden Berufen und sogar als Therapeuten. Denn die Fähigkeit, die eigenen Bedürfnisse zurückzustecken, um für andere da zu sein, ist ein Leichtes für sie.

Zuzulassen, dass andere für sie da sind, fällt den Bambi-Typen nicht leicht. Das Vertrauen in Menschen ist häufig tief verletzt. Nicht selten drückt sich der seelische Schmerz über körperliche Beschwerden aus. Dr Gabor Maté trägt in seinem Buch "Wenn der Körper Nein sagt" Studien zusammen, die den Schluss zulassen, dass die Unterdrückung von Emotionen, dabei insbesondere Wut, ein auslösender Faktor bei Erkrankungen wie Krebs, Multipler Sklerose, Reizdarmsyndrom und Alzheimer sein kann. Für Bambi-Typen ist es jedoch nicht hilfreich zu hören, dass sie stärker sein sollten.


Dr Stephen Porges, der Begründer der Polyvagal-Theorie sagt zum Gefallen-und-Beschwichtigen:

"Wenn wir damit anfangen, Menschen mit einem Beschwichtigungs-Thema zu sagen, sie sollen bestimmter sein, verpassen wir womöglich die Beziehungsdynamik und die Geschichte ihrer vergangenen Beziehungen, die sie zu durchleben hatten.(...) Denn Beschwichtigung ist für viele, wenn sie nicht beschwichtigen, dann wartet dort Verletzung im Gegenzug." (Transkript in Eigenübersetzung aus Dr Stephen Porges on Please and appease)


Was ich als selbst Betroffene zur Heilung brauchte


Ich selbst bin von dieser Trauma-Reaktion betroffen gewesen. Der erste Schritt zu meiner Heilung war das tiefe Begreifen, dass mein Verhalten niemandem dient, denn das war es, was ich zutiefst glaubte. Doch die ständige Fürsorge für andere führt dazu, dass die Menschen um uns herum, nicht wachsen müssen. Es liegt eine kindliche, sehr schmerzhafte Überhöhung in unserem Verhalten anderen gegenüber verborgen, die unsere Mitmenschen schwach hält. Uns selber verlassen wir dabei täglich im Chaos der Bedürfnisse anderer und lassen nicht zu, dass irgendwer uns zutiefst kennenlernt.

Ich möchte dir Mut zusprechen und teilen, dass der Umgang mit dem vergangenen Schmerz sich lohnt. Du bist ein Individuum, das sich lohnt kennenzulernen und in die Welt zu tragen. Wenn du dabei Unterstützung von mir willst, melde dich gerne bei mir.



"Wut, oder das gesunde Erleben dieser, ist eins der 7 A´s der Heilung."

Dr Gabor Maté, Wenn der Körper Nein sagt.








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